Bei der Geburt dabei oder verpasst

Muss ich bei der Geburt dabei gewesen sein?

Ja, so kann es gehen. Ich war unfreiwillig bei der Geburt meines Sohnes nicht dabei, sondern schwebte gerade auf den Wolken, genaugenommen direkt darüber. Glücklicherweise ging die Geburt selbst in Rekordgeschwindigkeit über die Bühne, glücklicherweise für Frau und Kind, nur hatte ich zwischen Heimat und Aufenthaltsort gute 400 Kilometer zu überwinden, und selbst Germanwings hatte keine Chance, mich rechtzeitig abzusetzen, auch wenn sie sich alle Mühe gegeben haben. Mein Aufenthalt war zwar direkt am Flughafen, und die freundliche Mitarbeiterin von Germanwings schaffte es sogar, die Maschine für mich faktisch aufzuhalten. Doch Sohnemann hatte es einfach sehr eilig, uns so war ich bei der Geburt halt nicht dabei.

Macht mich das zu einem schlechteren Vater? Habe ich ein epochales Ereignis verpasst? Nicht selten hatte ich den Eindruck, beim ausführlichen Erzählen dieser Episode einen Hauch von vorwurfsvoller Gestik in den Gesichtern meiner Gegenüber lesen zu können. Oder ist das nur Einbildung? Zumindest in einem Fall ist es mir gegenüber klar ausgesprochen worden. “ICH wäre nicht mehr gefahren so kurz vor dem Termin.” ‘So kurz’ waren rund zwei Wochen, und ich kann mir das in meinem Beruf nicht aussuchen. Oder vielleicht hätte ich es doch gekonnt und Einbußen einfach in Kauf nehmen müssen? Aber um was geht es hier? Geht es darum, ein Ereignis verpasst zu haben, das sich nicht wiederholen lässt? Oder geht es darum, seiner Partnerin, der Mutter seines Kindes, nicht zur Seite gestanden zu haben? Letzteres ist eine Argumentation, die ich durchaus nachvollziehen kann, was nicht heißt, dass ich sie uneingeschränkt teile. Ich beführte aber, in den meisten Fällen ist ersteres gemeint. Für mich klingt das “Bei der Geburt dabei sein müssen” damit ein wenig wie reiner Selbstzweck.

Und so muss ich sagen, dass ich es zwar schade fand, nicht dabei gewesen zu sein, aber nicht das Gefühl habe, dadurch einen unaufholbaren Baustein im gemeinsamen Leben nicht gelegt zu haben. Im Nachklang allerdings kann ich eines berichten, was mir bei aller Zivilisation die unbestechliches und unbeeinflussbare Biologie unseres Daseins wieder einmal vor Augen hält. Es hat nach dem Betreten des Kreissaals und dem ersten Kontakt zu meinem Sohn etwa eine halbe Stunde gedauert, bis ich sehr plötzlich einen Schutz-Instinkt entwickelte. Rund 30 Minuten – und das halte ich für eine lange Zeit – brauchten wir, um uns erst einmal kennenzulernen. Vielleicht wäre diese Zeit nicht notwendig gewesen, wäre ich im Kreissaal anwesend gewesen.

Und dann plötzlich, nach diesen unendlichen 30 Minuten, war mir klar, dass ich mich zwischen ihn und alles stellen werde, was meinem Sohn etwas antun möchte. Ich hoffe, dass dieses Gefühl nie vergeht, niemals, auch nicht, wenn er erwachsen ist.


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