Lieber Sohnemann, es tut mir aufrichtig leid. Ich selbst bin dreizehn Jahre zur Schule gegangen, und dennoch kann ich dir nicht im Geringsten mitteilen, was genau jetzt auf Dich zukommen wird beim Schulbeginn 2020. Du wird lesen lernen, Du wirst rechnen lernen, noch viel mehr sinnvolle und weniger sinnvolle Dinge sehen, verstehen, verinnerlichen. Du wirst eine neue Welt betreten, eine Welt, in der Deine Neugier auf das Leben Futter bekommt und gleichzeitig gebremst und kanalisiert werden wird. Du wirst verstehen und auch nicht verstehen, und Du wirst wachsen. Und ich werde Dich dabei unterstützen, nur helfen kann ich Dir kaum. Denn ich bin ahnungslos.
Vorbereitungen auf einen neuen Lebensabschnitt
Was ist noch alles zu tun? Das Kinderzimmer muss neu eingerichtet werden. Es fehlt ein echter Schreibtisch, oder ist der gar nicht notwendig? Der noch nicht angeschaffte Tisch steht schon jetzt in Konkurrenz um den Platz im Zimmer mit Lego-Steinen und Playmobil-Welten, die um jeden Zentimeter kämpfen. Eine Schultasche muss her. Vor 36 Jahren nannten wir die “Tonister”, der war so eckig, dass selbst DHL ihn als Paket ohne Aufschlagszahlung mitgenommen hätte. Nur war das damals noch die Deutsche Post. Stifte und ein Mäppchen sind schon da, Geschenke aus der Verwandschaft und Bekanntschaft. Aber was braucht man heute eigentlich alles?
Das Leben hat sich verändert seit meiner Einschulung. Mobiltelefone gab es praktisch nicht, das Internet existierte nur in Labors. Im Winter lag Schnee, im Sommer rollte der Fußball über die Grünflächen. Es war eine tolle Zeit, und ich hoffe inständig, dass sich dieses Lebensgefühl auch wiederfindet in der heutigen, veränderten Situation unserer Kinder. Dieses Gefühl von Freiheit, einfach rauszugehen und rausgehen zu dürfen, bei Freunden zu klingeln oder zu klopfen, weil man sich bereits auf dem Heimweg verabredet hatte. Denn spontan anrufen konnte oder durfte man nicht, zumindest nicht in der Mittagszeit zwischen 13 und 15 Uhr. Verbindliche Verabredungen waren für das eigene Sozialleben wichtig, das lernte man bereits früh. Existiert so etwas heute noch? Oder ist alles nur noch spontan?
Und was lehrt die Schule heute? Lesen funktioniert wie damals auch, schreiben eigentlich ebenso. Nur kommt heute noch das Tippen dazu, das gab es damals praktisch nicht, maximal testweise auf Papas Schreibmaschine. Da fällt mir auf: Brauchen Kinder in der Grundschule eigentlich schon einen Computer? Und wenn ja, mit Internet? Ohne macht ja nicht mehr wirklich Sinn. Mein vermeintliches Wissen hat sich bei genauerem Hinschauen und Nachdenken pulverisiert zum Schulstart 2020. Ich bin verzweifelt und in Schockstarre, denn wie konnte Sohnemann nur so schnell so groß werden? Ich weiß, dass ich nichts weiß – dieser Satz ist plötzlich aus seinem Paradoxen in die Wirklichkeit getreten und trifft mich mit voller Wucht.
Schulbeginn 2020 günstig gelegen
Immerhin, das Damokles-Schwert der Betreuungslücke hängt nicht über uns. Das KITA-Jahr endet mitten in den Schulferien und verschafft uns ein Jahr Pause, die verschiedenen Betreuungszeiten von Sohnemann und Töchterchen übereinander zu legen und mit unseren Urlaubsansprüchen abzudecken. Anderes Thema, nicht weniger kompliziert und erst 2021 akut für uns. Dieses Jahr ist erst einmal der Schulbeginn 2020 relevant, am 12. August geht es los. Dann beginnt der “Ernst des Lebens”, wie meine Großeltern mir schon zu sagen pflegten, und ich hoffe, sie behalten nicht recht.
In all dem Vorbereitungs-Chaos gibt es eine Person, die das alles auf sich zukommen lässt: Sohnemann selbst. Und du wirst das schon meistern, da bin ich mir sicher. Denn wenn ich mich auf eines verlassen kann, dann ist es die Tatsache, dass Du einfach ein tolles Kind bist. Das muss ich dir heute mal wieder sagen, direkt und unmittelbar nach der KITA. Und danach sind wir beide gemeinsam ahnungslos.
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